Wir beobachten und analysieren unsere Welt mit immer ausgefeilteren Methoden. Aktuelle Imaging-Techniken erlauben sogar, dem Gehirn beim Denken zuzusehen. Biochemisch-physiologische Zusammenhänge des Körpers sind ebenso erforscht wie die Weiten des Universums oder der Mikrokosmos einzelner Nanopartikel. Das Genom des Menschen ist vollständig entschlüsselt. Haben wir beim Forschen und Zerlegen und Durchdenken gefunden, was Leben ausmacht?
Leben bedeutet so viel mehr als die „richtige“ Zusammensetzung von ein paar Atomen. Zum Leben gehört die Ausrichtung auf einen Sinn. Was aber bedeutet Sinn in diesem Zusammenhang? Wolfgang Roth, Professor für Psychologie an der Freiburger Universität, schreibt dazu:
„Sinn hat verschiedene Aspekte. Damit ist zunächst der subjektive und in erster Linie rationale Begründungszusammenhang für das Selbst- und Weltverständnis gemeint. Als zweiter Aspekt wäre der emotionale Anteil zu sehen, in den die intellektuelle Sinndeutung eingebettet ist. Weiterhin wäre die intersubjektive Sinngebung zu nennen, in der die verschiedenen Sinndeutungen miteinander kommunizieren und zu übergeordneten Deutungen kommen. Und letztlich wäre dieser intersubjektive Aspekt auf emotionaler, transrationaler Ebene zu sehen, so dass sich ein kollektives und tief reichendes Erahnen vom Sinn seiner selbst im Weltverbund ergibt.“ (Hüter, Roth, Brück: Damit das Denken Sinn bekommt, Herder, 2008)
Für CG Jung waren Denken und Fühlen noch zwei gegensätzliche Möglichkeiten der Wahrnehmung. Erkenntnisse der Hirnforschung sprechen jedoch eine andere Sprache: Denken und Fühlen sind untrennbar miteinander verbunden. Limbisches System und Neokortex stehen im ständigen Austausch. Und jede scheinbar so rationale Entscheidung beruht tatsächlich immer auf Ratio und Emotio.
Warum tun wir uns dann oft so schwer, unsere Gefühle wahrzunehmen, anzuerkennen und zu würdigen? Wir sind aufgewachsen mit der Lehrmeinung, Gefühle seien „unwissenschaftlich“, „unnötig“, gar „hinderlich“ dabei, klare Entscheidungen zu treffen und damit erfolgreich zu sein. In unserer Zeit einen Teil unseres Selbst als nicht messbar, damit nicht objektivierbar und unerklärlich zu akzeptieren, scheint den Anforderungen der Leistungsgesellschaft zu widersprechen.
Dabei ist längst widerlegt, dass sinnvolle Entscheidungen ohne Gefühle getroffen werden könnten. Unsere Fähigkeit, nonverbal Stimmungen zu erfassen und auf einer emotionalen Ebene in Kommunikation zu treten, war und ist überlebenswichtig. Die evolutionäre Entwicklung des menschlichen Gehirns und auch die individuelle Entwicklung des Gehirns vom Säugling zum Erwachsenen beruht auf dem Aufbau und der Umgestaltung neuronaler Netzwerke. Dieser Vorgang ist immer eine Reaktion auf die Umwelt. Ohne Interaktion ist keine Weiterentwicklung, keine Reifung denkbar. Und Interaktion, Bezogenheit auf die Umwelt, beinhaltet immer auch eine emotionale Ankoppelung (siehe auch Joachim Bauer: Warum ich fühle, was du fühlst: Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone, Heyne, 2006).
Was bedeutet das für uns? Fühlen ist ein unabdingbarer Bestandteil des Lebens! Je besser wir Gefühle wahrnehmen können, umso leichter werden wir erkennen, was unsere wirklichen Bedürfnisse sind. Und umso besser werden wir in Kontakt treten können mit anderen. So kann es gelingen, Vorurteile, Grenzen und innere Beschränkungen – uns selbst und anderen gegenüber – zu überwinden, Sinn zu finden im Leben und damit zu mehr Freude und Glück für uns selbst und andere beizutragen:
„In einer solchen Atmosphäre, die von menschlichen Werten bestimmt wird, ist es auch sehr viel einfacher, Konflikte zu lösen oder selbst Werte wie Respekt, Selbstdisziplin oder auch Vergebung zu realisieren.“
Dalai Lama