Weg und Ziel

Rotwand 2014 (c) Dr. Eike Hoffmann

Selbstverständlich sind wir durch und durch positiv, effizient, lösungs- und zielorientiert. Wie müssen unser Ziel ganz klar vor Augen haben, uns immer wieder in deutlichen Bildern vorstellen, an seine Verwirklichung glauben. Dann ist der Erfolg garantiert. Ganz nach dem Jahrtausende alten Motto:

Nur wer sein Ziel kennt, findet seinen Weg. 
Epiktet

Aber stimmt es wirklich? Ich möchte Ihnen heute eine andere, fernöstlich inspirierte Perspektive anbieten, zu der mich meine letzte Bergtour inspiriert hat.

Bergtouren, das ist so ein Thema, bei dem man normalerweise sein Ziel klar vor Augen hat. Man hat geplant, welchen Gipfel man erreichen möchte, was der beste Weg dorthin zu sein scheint, wie lange man brauchen wird, bis man das Gipfelkreuz erreicht hat. Und so startet man in aller Frühe, geht ganz auf das Gipfelziel fokussiert zügig voran. Mit Stolz erfüllt vergleicht man am Gipfel die Zeiten, denkt vielleicht gar an Ueli Steck, den Schweizer, der in weniger als drei Stunden durch die Eiger Nordwand klettert… Beeindruckend, keine Frage.

Und dabei hat man so viel nicht gesehen! So viel nicht gehört, so viel nicht aufmerksam wahrgenommen. Wie wundervoll ein Tag am Berg im Frühling doch ist! Die Vögel lärmen im Wald – war da nicht sogar ein Kuckucksruf dabei? Die schon warmen Sonnenstrahlen finden ihren Weg durch alte, knorrige Äste, die vom ersten zarten Grün leuchten, und kitzeln in der Nase. Unter den Füßen knirscht hier und da noch der letzte verharschte Schnee. Und plötzlich öffnet sich der Blick, geht weit über die Täler zum Horizont. Die Almwiesen sind gesprenkelt von gelben Aurikeln und – ich kann es kaum glauben – tatsächlich schon so früh im Jahr von leuchtend blauem Enzian. Also beschließe ich eine Pause einzulegen. Ja, noch bevor ich am Gipfel war. Denn jetzt scheint gerade die Sonne, es ist warm, es duftet nach Wildkräutern, die Hummeln summen über die Enzianwiese. Ich sitze am Hang, den Blick in die Weite gerichtet, lausche, spüre den weichen Boden unter den bloßen Füßen und die Sonne im Gesicht. Und merke, wie ich ruhig werde, wie alle Hast und alle Alltagssorgen von mir abfallen. Hier bin ich ganz im Hier und Jetzt, ganz bei mir.

Wir Menschen brauchen Ziele, um unser Leben als sinnvoll zu empfinden. Es ist gut zu wissen, wo man hinmöchte und welche Schritte zum Ziel führen. Wir brauchen aber auch die Stille, die innere Einkehr, die Achtsamkeit für jeden Schritt auf dem Weg. Denn daraus erwächst Kraft und Freude über das kleine Glück am Wegesrand, das am Ende so wesentlich zum großen Lebensglück beiträgt.

Setzen Sie sich Ihre Ziele. Und nehmen Sie sich die Zeit, manchmal einfach nur auf dem Weg zu sein.

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